Vollzeitblogger

Kratzer

November 22, 2015

Niemand ist perfekt, das ist eine relativ einfache Wahrheit. Das Problem daran entsteht eigentlich nur, wenn man dennoch von sich oder anderen, Perfektion erwartet.

Dinge und Menschen können gut sein, verdammt gut oder durch hunderte von Arbeitsstunden eine fast perfekte Illustion von Perfektion zu schaffen, aber es gibt nie die magischen 100%.

Jeder Hollywoodfilm, jede Tonaufnahme hat irgendwo einen winzigen Fehler, jedes Objektiv bekommt irgendwann einen Kratzer vom Gebrauch oder ein Staubkorn das sich auf den Deckel legt. Das ist gut so, sonst könnte man sich ja auch kaum darüber unterhalten oder dazu eine Beziehung aufbauen.

Woher wüsste ich welche Kamera meine ist, wenn sie nicht einen Kratzer an der Seite hätte, von dem Mal, als ich zu nah an der Backsteinmauer entlang ging und sie wenig elegangt dagegen knallte? Woher wüsste ich, dass einer der Collgeblöcke meiner wäre und welchen ich als Mousepad nehme, wenn ich nicht ungeschickter Weise eine der oberen Seiten umgeknickt hätte? Woher wüsste ich, dass es die Augen meiner Freundin sind, wenn es nicht einen dunklen Fleck auf der Iris gäbe, an dem ich ihre immer erkennen könnte?

Es gibt ein interessantes Phänomen, bei dem ein Durchschnitt von Gesichtern als attraktiver aufgefasst wird als individuelle Gesichter. Generell werden die Durchschnitte der attraktivsten Gesichter höher gescored als die individuellen echten Gesichter.

Für mich entdecke ich immer wieder und mehr Teile in meinem ganzen Leben, die nicht perfekt sind und auch nicht so sein müssen. Das erfordert viel Arbeit im Kopf, wenn man doch eigentlich immer gehört hat an Notendurchschnitte, Verkaufszahlen oder andere Dinge denken sollte. Steffen Böttcher bringt es mit Teilen seiner fotografischen Entwicklung auf den Punkt wenn er schreibt:

Auf kurzer Stippvisite in Barcelona. Finde immer weniger Gefallen an scharfen Bildern

Barcelona auf stilpirat.de (unbedingt ansehen um zu sehen was er meint)

In teilen Meines Alltags muss natürlich noch nach Perfektion gestrebt werden, weil Code nunmal mit wenig Bugs weitaus besser funktioniert und man ja eher danach bezahlt wird, was funktioniert als nach dem was nicht geht. In den Teilen, in denen ich mehr Regie führen darf ist das anders, da soll es hauptsächlich spannend sein, ein wenig wie in den Dogma 95 Filmen von Lars von Trier und co. Es ist ok wenn ein Kameramann zu sehen ist, es ist ok, wenn das ganze Bild rauscht, hauptsache die Emotion ist echt und nah.

Für mich ist das allgemeinste Wort, was das alles umfasst vielleicht Ehrlichkeit. Die Kratzer sind ehrlich, die Schrammen, das Bildrauschen, der Regen auf der Linse.


© 2023, by Jonathan M. Hethey